Was sind Phantomschmerzen?


Phantomschmerz – darunter ist eine schmerzhafte Empfindung zu verstehen, die aus einem Körperteil zu kommen scheint, der nicht mehr vorhanden ist, zum Beispiel aus einem Bein, das amputiert wurde. Phantomschmerzen entwickeln sich bei etwa 40 bis 80 Prozent aller Amputationen.1 Früher hielten Experten die Phantomschmerzen für ein rein psychisches Problem, heute weiß man, dass es sich um reale Schmerzen handelt, die im Rückenmark oder Gehirn entstehen.

Kennzeichen von Phantomschmerzen


Die meisten Patienten, bei denen ein Körperteil amputiert wurde, berichten von einem Gefühl, als sei das amputierte Körperteil noch ganz oder teilweise vorhanden oder als bewege es sich. Häufig verspüren Betroffene juckende und kitzelnde Signale oder Temperaturreize. Mediziner nennen dieses schmerzfreie Phänomen eine Phantomempfindung, beziehungsweise bezeichnen den Bereich als Phantomglied.

Davon grenzt sich der schmerzhafte Phantomschmerz ab, der folgende Charakteristika aufweisen kann:

  • Der Phantomschmerz beginnt sofort oder wenige Tage nach der Amputation.
  • Er wird beschrieben als stechend, bohrend, drückend, pochend oder brennend.
  • Er kann permanent sein oder kommen und gehen.
  • Oft betrifft er das Körperteil, das am weitesten vom Rumpf entfernt ist, zum Beispiel den Fuß, wenn das Bein amputiert wurde.
  • Mitunter fühlt es sich an, als würde das amputierte Körperteil in eine unbequeme Lage gezwungen.
  • Stress oder Druck auf den Amputationsstumpf können den Phantomschmerz auslösen oder verstärken.

Phantomschmerzen kommen meist bei Patienten vor, denen ein Arm oder ein Bein amputiert wurde, doch können sie auch nach der Entfernung anderer Körperteile auftreten, wie von Brüsten, Penis, Augen oder Zunge.

Das Teleskoping

Kurz nach der Amputation können Betroffene das entfernte Körperteil häufig so spüren, als wäre es noch komplett vorhanden (Phantomglied). Im Laufe der Zeit verkürzt sich dieses Phantomglied dann immer weiter (Teleskoping) und wird schließlich nur noch direkt im Bereich der Abtrennung wahrgenommen.

Ursachen für Phantomschmerz


Die eigentliche Ursache für Phantomschmerz ist noch unbekannt. Mit großer Wahrscheinlichkeit entsteht das Phänomen aber im Rückenmark oder im Gehirn. Bei der Untersuchung des Gehirns mit bildgebenden Verfahren, wie der Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) oder der Positronen-Emissions-Tomographie (PET), ist eine erhöhte Aktivität in Gehirnregionen nachweisbar, die neuronal, also das Nervensystem betreffend, mit dem amputierten Körperteil verbunden sind.

Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) und Positronen-Emissions-Tomographie (PET)

Mit beiden bildgebenden Verfahren lassen sich lebende Organe, wie zum Beispiel das Gehirn, sehr gut untersuchen und abbilden.

Die MRT arbeitet mit starken Magnetfeldern, durch die die Atome in den Geweben angeregt werden. Mithilfe der entstehenden Bilder kann der Radiologe krankhafte Veränderungen erkennen oder ausschließen.

Bei der PET kommen verschiedene radioaktive Stoffe zum Einsatz, um Stoffwechselvorgänge im Körper darzustellen. Benutzt man zum Beispiel radioaktive Glukose, wird diese besonders zahlreich in die aktiven Bereiche des Gehirns transportiert und zerfällt dort. Dieser Zerfall wird gemessen und mittels eines Computers in ein Bild umgewandelt. So kann der Neurologe sagen, welche Bereiche des Gehirns zu einer bestimmten Zeit aktiv waren und die möglichen Ursachen der Phantomschmerzen näher ergründen.

Hypothesen zu den Ursachen von Phantomschmerz


Eine der Hypothesen zur Entstehung von Phantomschmerz geht davon aus, dass das Gehirn den fehlenden neuronalen Input aus dem amputierten Körperteil kompensiert und darauf letztendlich in unvorhersehbarer Weise reagiert. Als Ergebnis entsteht die erste und grundlegendste Reaktion des Körpers, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist: Schmerzen.

Die zweite Hypothese geht davon aus, dass das Gehirn die nicht mehr vorhandenen sensorischen Eingänge aus dem amputierten Körperteil anderen Körperteilen zuweist und die Ursache der Phantomschmerzen darauf beruht. Ein Beispiel: Weil eine amputierte Hand keine Sinneswahrnehmungen mehr aufnehmen kann, werden die ursprünglich dafür zuständigen Gehirnareale anderen Körperregionen zugewiesen, zum Beispiel einer Wange. Wird dann die Wange berührt, empfindet der Patient das so, als würde seine amputierte Hand berührt. Der innere Konflikt endet laut der Theorie in Phantomschmerzen.

Auch eine Reihe anderer Faktoren kommt bei der Entstehung von Phantomschmerzen als Ursache in Betracht. So erzeugen die abgetrennten Nervenendigungen im Amputationsstumpf unter Umständen Phantomschmerzen, wenn sie wachsen und dabei am Stumpf anstoßen. Daneben kann auch eine Art Schmerzgedächtnis verantwortlich sein, das sich durch das schmerzende Gewebe vor der Amputation ausgebildet hat.

Risikofaktoren für Phantomschmerz


Nicht nur die Ursachen des Phantomschmerzes sind unbekannt. Unklar ist auch, warum manche Patienten Phantomschmerzen entwickeln und andere nicht. Einige Faktoren scheinen das Risiko für Phantomschmerz ansteigen zu lassen:

  • Schmerzen vor der Amputation: Patienten, die bereits Schmerzen im zu amputierenden Körperteil hatten, spüren mit größerer Wahrscheinlichkeit Phantomschmerzen – besonders kurz nach der Operation.
  • Schmerzen im Stumpf: Patienten mit schmerzendem Amputationsstumpf leiden zusätzlich häufig unter Phantomschmerzen. Das abnormale Wachstum der beschädigten Nervenenden im Stumpf steht im Verdacht, beides – Schmerzen im Stumpf sowie die Phantomschmerzen – auszulösen.
  • Schlecht angepasste Prothesen: Auch schlecht angepasste Prothesen können Schmerzen am Amputationsstumpf verursachen und somit zusätzlich Phantomschmerzen auslösen.

Die Problematik schlecht sitzender Prothesen kann und sollte zeitnah von einem Fachmann (zum Beispiel einem Orthopädietechnik-Mechaniker) behoben werden. So verringern Sie das Risiko für die Entstehung von Phantomschmerzen und Hautirritationen.

Auch interessant: Zwischen dem Lebensalter bei der Amputation der Gliedmaße und der Entstehung von Phantomschmerzen besteht ein Zusammenhang. Am häufigsten unter Schmerzen leiden Menschen, bei denen Mediziner die Amputation im Erwachsenenalter durchgeführt haben. Kinder — oder Personen, die mit einem fehlenden Körperteil geboren wurden — berichten selten oder gar nicht von den belastenden Schmerzen. Ärzte vermuten, dass bei diesen Personengruppen schon früh eine Umorganisation im Gehirn zustande kommt, die für das Ausbleiben des Phantomschmerzes verantwortlich ist.

Behandlung und Selbsthilfe bei Phantomschmerz


Bei manchen Patienten verbessern sich die Phantomschmerzen mit der Zeit, ohne dass sie behandelt werden. Bei anderen jedoch stellt die Schmerzbehandlung eine Herausforderung für die Medizin dar und gestaltet sich schwierig. Der Arzt wird die Therapie möglicherweise mit der Verordnung von Schmerzmedikamenten beginnen. Verwendet werden in der Regel Präparate, die auch zur Behandlung anderer Nervenschmerzen einsetzbar sind (beispielsweise nervenschmerzwirksame Antidepressiva und Opioide). Außerdem kann er nichtinvasive Therapien, wie Akupunktur oder transkutane Neurostimulation (TENS) zum Behandeln der Phantomschmerzen anwenden. In besonders schwierigen Fällen können auch (minimal)-invasive Methoden helfen, wie Injektionen, Rückenmarkstimulation oder Nervenblockaden.

Was Betroffene selbst gegen Phantomschmerz tun können

Sie können zwar nicht beeinflussen, ob Sie Phantomschmerz entwickeln oder nicht, aber einige Verhaltensregeln können Ihnen dabei helfen, den Phantomschmerz zu verringern oder aber zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass er sich entwickelt:

  • Lenken Sie sich ab: Suchen Sie sich Aktivitäten, wie Lesen und Musik hören, sodass Sie Ihren Fokus vom Schmerz ablenken können.
  • Bleiben Sie aktiv: Bewegen Sie sich im Rahmen Ihrer Möglichkeiten möglichst häufig, machen Sie Gartenarbeit, laufen Sie, schwimmen Sie oder fahren Sie Rad.
  • Finden Sie Entspannungsmöglichkeiten: Üben Sie Aktivitäten aus, die Ihre emotionale und muskuläre Anspannung abbauen: Nehmen Sie ein warmes (nicht zu heißes!) Bad oder üben Sie Entspannungstechniken, wie Yoga oder Tai-Chi.
  • Pflegen Sie den Amputationsstumpf: Achten Sie auf den richtigen Sitz der Prothese, massieren Sie den Stumpf, wenden Sie Wärme- oder Kältereize an oder testen Sie die transkutane Neurostimulation (TENS), das kann den Schmerz reduzieren.
  • Nehmen Sie Ihre Medikamente: Beachten Sie die Anweisungen Ihres Arztes bei verschreibungspflichtigen und nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und nehmen Sie sie nach Vorschrift ein. Wollen Sie zusätzlich pflanzliche Arzneimittel oder andere alternative Mittel zur Behandlung der Phantomschmerzen anwenden, besprechen Sie das mit Ihrem Arzt.

Auch ein häufiges und regelmäßiges Tragen der Prothese kann einen positiven Einfluss auf den Phantomschmerz haben. Dies liegt daran, dass das Gehirn den Körper wieder als vollständig wahrnimmt. Daher ist es besonders wichtig, dass sich Betroffene — soweit möglich — schon vor einer Amputation mit dem Anfertigen und Nutzen einer Prothese auseinandersetzen. Je früher das Hilfsmittel eingesetzt wird, desto schneller kann dem Phantomschmerz entgegengewirkt werden.

Hausmittel gegen Phantomschmerzen?

Auch Hausmittel stehen in dem Ruf, gegen Phantomschmerzen zu wirken. Eines davon ist beispielsweise Alufolie. Um den verbliebenen Stumpf gewickelt soll sie die vom Gehirn ausgehenden elektrischen Signale der Nerven zurückschicken und dem Organismus so vermitteln, dass alles in Ordnung ist. Inwieweit dieses Hausmittel tatsächlich gegen Phantomschmerzen hilft, wurde noch nicht nachgewiesen. Schädlich ist es jedoch — sofern die Wundheilung abgeschlossen ist — laut Erfahrungsberichten nicht.

Psychologische Verfahren zur Therapie von Phantomschmerzen

Der Verlust eines Körperteils und die damit einhergehenden möglichen Einschränkungen, stellen eine große Herausforderung für Betroffene dar. Die innere Haltung und die Akzeptanz gegenüber der neuen Lebenssituation wirken sich stark auf die Psyche aus. Daher ist es nicht verwunderlich, dass bei der Therapie von Phantomschmerzen viel Wert auf das psychische Wohlbefinden gelegt wird — denn je schlechter wir uns seelisch fühlen, desto empfänglicher sind wir für körperliche Schmerzen.

In erster Linie geht es bei der psychologischen Schmerzbehandlung darum, den Patienten umfassend über die neue Lebenssituation und die Therapiemöglichkeiten zu informieren. Weitere Maßnahmen können sein:

  • Das Vermitteln von Methoden zur Ärger- und Stressbewältigung. Der Betroffene wird in seinem zukünftigen Alltag mit verschiedenen Hindernissen konfrontiert sein, die Wut und Hilflosigkeit hervorrufen können. Beispielsweise passiert es häufig, dass nach der Amputation die Ausübung des erlernten Berufs nicht weiter möglich ist.
  • Den Patienten mit Hilfe von Gesprächen darin zu unterstützen, sich und seine Konstitution realistisch einzuschätzen und so Überlastung und Überforderung vorzubeugen.
  • Das Durchführen von Imaginationstraining. Dabei werden mit dem Betroffenen gedachte Bewegungen des amputierten Körperteils eingeübt, die entspannend wirken können.

Wichtig bei allen Formen der Therapie von Phantomschmerzen ist, dass die Maßnahmen möglichst zeitnah nach der Amputation erfolgen und regelmäßig durchgeführt werden.

Lateralisationstraining zum Behandeln von Phantomschmerzen:

Hierbei zeigt ein Fachmann dem Betroffenen mehrere Bilder von Extremitäten. Der Patient muss dann so schnell wie möglich entscheiden, ob eine rechte oder eine linke Gliedmaße abgebildet ist. Diese Übung schult die Körperwahrnehmung und kann den Phantomschmerz positiv beeinflussen sowie die Wirksamkeit der Spiegeltherapie erhöhen.2

Die Spiegeltherapie bei Phantomschmerzen

1996 erfand der indische Neurologe V. S. Ramachandran an der University of California, San Diego, eine neue Methode zur Behandlung von Phantomschmerzen bei Amputierten: die Spiegeltherapie. Das Grundprinzip dieser Methode, einer Art der Imaginationstherapie, ist einfach: Ein Spiegel wird beim Patienten in die Mitte von linker und rechter Körperhälfte platziert. Dadurch wird das noch vorhandene Körperteil gespiegelt und zwei gesunde Arme oder Beine werden vorgetäuscht. Das heißt, der Patient sieht im Spiegel anstelle des amputierten, das gespiegelte gesunde Glied und hat das Gefühl, er könne das amputierte Körperteil – über Bewegung der gesunden Gliedmaße – bewegen. So kann er sich beispielsweise aus einer schmerzhaften Position in eine angenehmere Körperlage bringen.

Mit dieser Therapie lassen sich tatsächlich Phantomschmerzen und der Einsatz von Schmerzmitteln verringern. Daneben kommt die Spiegeltherapie auch bei Nerven- und Nervenwurzelverletzungen, dem sogenannten komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS), zum Einsatz. Allerdings sind die konkreten Wirkmechanismen der Spiegeltherapie zur Behandlung der Phantomschmerzen noch unbekannt.

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Dr. Markus Numberger Dr. Markus Numberger studierte Biologie an den Universitäten Regensburg und Konstanz, im Fach molekulare Neurobiologie promovierte er 1992 am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg. Bereits 13 Jahre lang kümmert er sich um den Internetauftritt eines mittelständischen Pharmaunternehmens. Seit 2014 arbeitet er als freiberuflicher Autor (Online und Print) für verschiedene bio-medizinische Verlage, Agenturen und Unternehmen der Healthcare-Branche. Zudem veröffentlichte er mehrere Bücher in den Bereichen Neurobiologie, Demenz und Depression. Dr. Markus Numberger Autor und Neurobiologe kanyo® mehr erfahren
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